26 Oktober 2007

You have to go down to go up

Neues verfassen? Wohl eher nicht. Altes verbraten? Da geh ich ab bei. Gerade gefunden: mein nonsierender Text über das Atomium in Brüssel, verfasst im Rahmen des EYMD für die Zeitschrift work out:

You have to go down to go up

Laeken am Morgen. Kaum Chancen, im nördlichen Teil von Brüssel ein Café zu finden. Die wenigen die es gibt, sind geschlossen. Architektonisch bedenkliche Bauten, die langsam aber stetig verfallen. Der verblasste Charme einer alten Zeit. Wenige Menschen, nicht mal Touristen. Dabei sollte auf diesem Gelände vor fast 50 Jahren wieder mal der Aufbruch in die Moderne zelebriert werden.

Weltausstellung 1958. Dass technische Entwicklung nicht nur Vorteile für die gutgläubige Menschheit bringt, dürfte selbst damals schon hinreichend bekannt gewesen sein, die Opfer von Hiroshima und Nagasaki ins kollektive Gedächtnis gebrannt. Man könnte meinen, am Tiefpunkt der menschlichen Gesellschaft hätte man gelernt, in Zukunft manche Dinge besser anzupacken. Aber mit kritischem Hinterfragen wollte man sich auf der Expo 58 nicht aufhalten. „Die Nationen haben sich verabredet, in Brüssel ein lächelndes Gesicht zu zeigen, die Atombombe zu verstecken und so zu tun, als würden sie das Wort Rüstung überhaupt noch nie gehört haben.“, schrieb damals die deutsche Kulturzeitschrift „Magnum“. Technologie bedeutet Glückseligkeit. Da musste natürlich ein Symbol her. 2400 Tonnen Stahl wurden zu Kugeln und Röhren geformt, um die 165-milliardenfache Vergrößerung eines Eisen-Kristalls darzustellen. Brüssel hatte endlich ein postkarten- und T-Shirt-taugliches Wahrzeichen: Das Atomium.

Ohne große Probleme gelangen mein polnischer Kollege und ich in die mittlere Kugel. Wir hielten uns nicht sonderlich lange in den unterschiedlichen Eisenbällen auf. Hier ein paar Fotos, dort eine undefinierbare Klang- und Plastikinstallation eines italienischen Künstlers. Plötzlich eine Bar. Wir fragen den Kellner, wie wir denn nun endlich in die Aussichtskugel an der Spitze des Kristalls kommen würden. „You have to go down to go up.” Ein zugegeben höchst philosophischer Ansatz. Muss man nicht zuerst die eigenen Abgründe kennen, um zu ungekannten Höhen zu gelangen?

Diesmal müssen wir die normalen Treppen nehmen, elektrisch geht es nur nach oben. Unten angekommen, warten wir auf den Lift, um ganz nach oben zu kommen. Einige Sekunden Luftdruckvariation später erreichen wir die Aussichtsplattform. Im Themenpark „Mini-Europa“ blickt man auf Miniaturversionen europäischer Wahrzeichen. Im ehemaligen Heysel-Stadion starben 1985 39 Menschen bei einem UEFA-Cup-Finale zwischen Juventus und Liverpool.

Kultur, Politik, Wissenschaft und Philosophie. Das nördliche Brüssel, ein Apologet des charmanten Verfalls.


Claudio (Kamera), Przemek (Polen) und ich (teilweise genötigtes testimonial)

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