12 November 2007

Die Reconquista des Frohsinns

Langsam führte er die imaginäre Rose an den Mund. Aus den Lautsprechern ertönte das sanft liebkoste Akkordeon der längst verstorbenen Meister. Argentinien. Die Tage waren wieder dunkler geworden. Doch in selbem Grade schien sich sein Herz zu erhellen, das so viele Monde in Düsternis verbracht hatte. Es drangen Bitten und Communiquees an sein halb taubes Ohr. Doch er schien sie von sich zu schmettern. Zu sehr war er bereits in die Lethargie des süßen Stillstandes verfallen. Die Tage gingen ihrem Ende zu. Tage voller Frohlockungen und nur weniger Deja Vus, die ihn in die Misere seines früheren Seins zurück rissen. Sein Kopf folgte der Musik in ekstatischer Präzision, die Nadel drang an das Ende der Langspielplatte. Er öffnete seinen schweren Schrank und ließ sich in Arme von Mutter Indien fallen. Zig tausende Kinder hatte sie vor Jahrzehnten in das Abendland geworfen. Schall und Rauch. Große Gönner sind sie geworden. Mäzene und Narren. Teilen und Herrschen.

Es waren nicht die Länder, die er bereist hat, sondern die Menschen, die aus diesen Regionen zu stammen scheinen. Die Wirtin hatte nur ein Gericht auf der Speisekarte. Auch beim Wein hatte sie ihm keine Wahl gelassen. Doch die Selektion drang vollends in sein Bewusstsein. Er lehnte sich zurück, fühlte an der jahrhundert alten Vertäfelung und spürte den Hauch einer brutalen Teilung und einer ungewollten Vereinigung. Projektionen des Fremden wärmten sein Gesicht, der Staub im Strahl benetzte seine schwer atmende Lunge. Es war Herbst geworden im felsigen Land. Die Fenster wurden allmählich vernagelt, ein letztes Aufbäumen der Geselligkeit verschwand im eisigen Wind des Nachmittags.

Das Bild begann zu einer Allegorie zu werden. Er hatte es nicht für möglich gehalten, dass sein Inneres diese Widernisse überdauern würde, aber es hielt stand. Vieles hatte ihm die rettende Hand gestreckt, als er im Packeis der zerbrochenen Träume grausam zu ertrinken glaubte. Alles war, wie es immer war. Doch es war nackt. Die Materie hatte sich der Bezüge entmächtigt und lag hilflos am hermetisch verfliesten Boden der Erkenntnis. Die Jahre der Einsamkeit wichen dem Entsetzen der Wahrheit. Das Lügenkonstrukt seiner Zukunft zerbrach im Nebel des alkoholgeschwängerten Julihimmels. Damals schien sein Körper den Kampf gegen die Zeiten endgültig aufgegeben zu haben. Dunkles Blut hatte sein Fleisch vergiftet, triefende Wunden säumten seine Beine. Die trübe Flüssigkeit, die ihm unaufhaltsam aus den Poren geronnen war, durchsetzte die Luft mit dem Geruch des Todes. Doch er trotzte der Vergiftung und kam wieder zu Kräften. Doch die Medizin, mit der er seinen Körper reinigen musste, hatte ihre Spuren hinterlassen. Seine einst widerstandsfähige Haut war zu brüchigem Papier geworden. Die Belastungen eines langen Fußmarsches ließen ihn nach wenigen Stunden zusammen brechen. Die Krankheit forderte stets ihren Zoll.

So hatte er den Sommer durchlebt. Von Schmerzen gepeinigt und Arbeit überhäuft sah er die Tage kürzer werden. Und auch die Phasen der Tristesse wechselten immer häufiger mit Perioden der Glückseligkeit. Das mag ein zu großes Wort sein, dachte er sich in solchen Momenten, doch war es unverkennbar. Die verdorrte Rose seiner Gefühle fing Feuer. Doch verglühte sie nicht unter bannen Blicken der Zuseherschaft sondern schien dem Dornbusch gleich reine Energie freizusetzen. Energie, die er nicht zurück hielt, sondern in ausschweifenden Nächten um sich warf. Er trank, er rauchte, er sang. Er verfluchte die Menschen und liebte sie. Er herzte und stieß von sich. Er war ein freier Gefangener des Hedonismus geworden und suhlte sich in den profanen Freuden der Nacht.

Rückschläge des Alltags vermochte er noch nicht gänzlich ins Reich der Legende zu verweisen. Doch war er sich in nie dagewesener Intensität seiner selbst bewusst und floh nur noch gelegentlich in träumerische Alternativen des Gedachten. Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf kam ihm in den Sinn, doch die Selbstzerfleischung, die verschob er auf spätere Momente der Verzweiflung, die, so war ihm wohl bewusst, wieder kommen werden. Aber er sprach nicht mit den Apologeten der tristen Erinnerung, sondern streckte ihnen die offene Hand entgegen und wand die Augen ab.

So begab es sich eines Abends, dass er in von verschieden Varianten der Zerstreuung benebelt im Fonds des alten Lichtspielhauses saß und wie wild scherzte und lachte. Der Tag hatte furchtbar begonnen. Kurz war er sogar bereit, dem Ernährer Lebewohl zu sagen und wieder in die brotlose Freiheit zu entfliehen. Doch der Abend sollte sich zu einem wunderbaren Intermezzo des Gelingens entwickeln. Am nächsten Morgen erwachte er in fremder Umgebung und verbrachte wunderbare Stunde in nüchterner aber bei Gott nicht ernüchternder Konzentration des Erfreulichen.

Als er an selbigem Abend noch einem Freund aus längst vergessenen Tagen über den Weg gelaufen war und sich dadurch wieder bewusst geworden war, dass es abseits des bekannten Seins noch stets mannigfaltige Alternativen gab, da war seine Reconquista des Frohsinns nahezu vollendet.

Wieder waren die Tage kürzer geworden und auch die Sonne schien sich in ihrem letzten Aufbäumen wider die Eisesstille schon aufzugeben, da begann eine zeitlich unbarmherzig begrenzte Periode der Freiheit. Wieder begann er den Existenzkampf seines Körpers zu spüren, der sich in solchen Intervallen oftmals zu Wort meldete und erhöhte Beachtung einforderte. Doch er stellte sich den fiebrigen Announcen nicht kampflos und war wild entschlossen, das Maul breit aufzureißen und das Dunkle entfliehen zu lassen. Und es gelang. Drei Tage lang durchstieg er die Berge des einstigen Kronlandes im Süden und saugte an der Brust der traditionellen Kulinarik. Nur wenige Augenblicke, die sich zu Stunden ausdehnten, später, galt es den Festtag des ihm zum liebsten gewordenen Blutsbruder im doppelten Sinne zu feiern. Eine 13-stündige Musketensalve des Genusses später spürte er einen kleinen Messerhieb der Erinnerung. Der wunderbare Ort, an dem die Feier im äußerst problemfreien Extatischen willkommen geheißen war, schlug ihm kurz mit dem Bajonette des Bewunderten zwo dro Wunden über das neu angelegte Kleid. Doch er ertrank die Verlockungen und schlief. Es war an die Zeit gekommen, das glückverheißende Exil wieder aufzusuchen. Nachdem er sich kurz darauf jedoch am Schrecken der Fremden und den Genugtuungen des Abseitigen erfreute, brach er seine Zelte wieder ab. Doch er war stets ein Getriebener geblieben und konnte nicht ruhen. Aber die Tage, die immer kürzer wurden, schienen noch ein wenig zu dauern.

Der Stachel der Rose hatte sich klammheimlich in seine belegte Zunge gebohrt. Er schmeckte den süßlichen Geschmack des eigenen Lebenssaftes und schloss die Augen. Der letzte Ton des Akkordeons war soeben verhallt.




Gehörte und ans Herz gelegte Musikauswahl zum Elaborierten:

Astor Piazzolla - Libertango
The Rolling Stones - Paint it black
Franz Ferdinand - Take me out
Noir Desir - Le vent nous portera
Nick Cave & Kylie Minouge - Where the wild roses grow
Nancy Sinatra - Bang Bang
Beefolk - Joy
Cariesfort Stories - Keshi
Morcheeba - Over and Over
Astor Piazzolla - Libertango

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Astor Piazzolla, Oblivion